Laudatio, 12.7.24 für Brigitte Servatius zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde
Was für ein Tag! Was für ein Ort! Was für ein Ereignis!
Was für eine Ankündigung im Gautinger Anzeiger! Dank an die Zeitungsmacher. Die Königsklasse des Theaters, das Kabarett, setzt den Rahmen für die Verleihung der Ehrenbürgerwürde. Das ist das Format, in dem ich weitermachen will. Dafür ist mein Ratgeber und Gewährsmann William Shakespeare: Wie es euch gefällt, 2. Aufzug, 7. Szene
„Die ganze Welt ist eine Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler
Sie treten auf und gehen wieder ab
Und jeder spielt im Leben viele Rollen
Durch sieben Akte hin …“
Und dann malt Shakespeare wunderbare Bilder, die wie Feuerwerksblitze sprühen und in denen er die sieben Zeitalter des Menschen beschreibt – gesprochen von Jaques, einem Edelmann im Gefolge des verbannten Herzogs Senior, mitten im Wald (im bosco) auf einer Lichtung.
Das war der Leitspruch, mit dem Shakespeare 1599 sein „Globe-Theater“ in London eröffnete und das neues Jahrhundert, das 17. Jahrhundert einleutete. Globe – der Globus, ein ungeheures Unternehmen, ein Wagnis – Wie es euch gefällt, das Stück – eine Einladung, eine Message – wir spielen, wie es euch gefällt. Und entsprechend der Empfehlung Shakespeares zeichne ich sieben Bilder von Ereignissen, Entscheidungen und Projekten, die bis heute wirken und aktuell sind.
1. Bosco – nachhaltiges Bauen
Das ist dein Haus, dein Gebäude, deine Bühne! Das Haus ist allmählich gewachsen. Schritt für Schritt und jeder Schritt ist eine neue bauliche und künstlerische Qualitätsstufe. Das „bosco“ ist kein Ereignis, sondern ein allmählicher Vorgang, ein Wachstumsprozess. „bosco“ heißt im Italienischen „Wald“. Und die Bewirtschaftung eines Waldes steht immer noch als Sinnbild für das Prinzip Nachhaltigkeit. Aus dem finanziellen Mangel, haben wir eine Tugend gemacht. Die treibenden intellektuellen Kräfte sind Hans-Georg Krause, Rainer Andreas Köhler und Manfred Frei. Die beiden praxisnahen Protagonisten: Brigitte Servatius und Bernd Hoffmann als erfahrener Architekt in Sachen Bausanierung und Umbau. Der Gemeinderat bildet die Entscheidungs-Basis. Am 7. Oktober 2005 findet nach zweijähriger Bauzeit die Eröffnung statt. Im September 2013 mit Gestaltung der Außenanlagen ist dann der Abschluss nach acht Jahren.
Als meine Frau und ich unseren sechzigsten Geburtstag im September 2006 hier im boscetto feierten, überraschte mich ein Gast mit der Ankündigung, er wolle um Mitternacht ein kleines Feuerwerk zünden. Ich war begeistert und berichtete das Brigitte. Sie sagte sofort: „Halt, das geht nicht. Ich bin die Hausherrin und verbiete dir das Zünden eines Feuerwerks. Wenn du das machst, gefährdest du die Zukunft des bosco und die Zukunft unserer Freundschaft. Ich habe allen Nachbarn versprochen, dass wir äußerst respektvoll mit ihrem Wunsch nach Ruhe umgehen. Wenn du das Feuerwerk zündest, habe ich eine Unterlassungsklage am Hals und wir können dann den Betreib im bosco einstellen. Ich habe intensive Gespräche mit den Nachbarn geführt und sie waren alle bereit, ihre Bedenken wegen der Geräuschbelästigungen zurück zu stellen.“ Kein Feuerwerk im bosco! Dank an die Nachbarn!
Wer sich für nachhaltiges Bauen interessiert – hier ist ein Lehrstück! Und darüber hinaus: Was das „Globe“ für London war, ist das „bosco“ für Gauting:
''Die ganze Welt ist auf der Bühne im bosco zu Gast und wir alle, alle Fraun und Männer sind die Spieler und spiegeln die Ereignisse, die uns bewegen.**
2. Remise – geballte Kraft bürgerschaftlichen Engagements
Das ganze Areal mit Schloss, Remise und Salettl: Ensembleschutz.
Nortrud (Daisy) Fischer, eine Löwin, und der Förderverein Remise Schloss Fußberg (gegründet 1999), eine Bürgerphalanx: selbstbewusst, selbstherrlich und verwegen. Weitgehende Selbständigkeit - und eines Tages war der wunderbare Dachstuhl gefährdet, die Längsunterzüge waren weg. Die Unterzüge waren rausgeschnitten worden und Architekten und Statiker beschwichtigten. Sie hätten das alles berechnet und das ginge so. Uns blieb das Herz stehen. Brigitte verhängte sofort eine Zugangssperre und veranlasste ein statisches Gutachten. Sechs Monate war die Remise geschlossen. Der Schreck saß uns tief in den Knochen. Heute Ringanker und dünne Stahltrossen und der ungehinderte Blick in den Dachstuhl verleiht dem ganzen Raum eine wunderbare Stimmung und hervorragende Akustik. Diese Aktion hat die Remise zum Kultursaal gemacht. Im Nachhinein eine gewagte Aktion mit gutem und glücklichem Ausgang! Ein Raum, in dem die ganze Welt der Musik heute zuhause ist.
3. Kino Breitwand – kultureller und städtebaulicher Leuchtturm
„Die ganze Welt ist eine Bühne …“ Hier ist die weitere Variante mit globalem Horizont, mit großer Lebendigkeit, Kontinuität und Ausstrahlung – die Welt des Films.
Neubau eines Kinos am S-Bahnhof – Matthias Helwig als Jungunternehmer, verwegene Idee, Tandem-Vorhaben mit dem Ärztehaus. Ein mutiges, ein gewagtes Bauvorhaben zweier unterschiedlicher Bauherren und Architekten. Sie fanden zusammen in einem Klima der Kreativität und in der Überzeugung, an diesem Ort und zu dieser Zeit das richtige zu tun. Nicolai Baehr als Architekt und Josef Reichenberger als Unternehmer und Projektentwickler für das Ärztehaus.
4. Bahnhof – Eckstein und Zeichen im geistesgeschichtlichen Netz - Drama um Abriss, Neubau und Erhalt
Die kommunale Planungshoheit erlaubte es uns, das Areal zum Gebiet mit erhöhtem Sanierungsbedarf zu erklären. Das ist gerichtsfest gelungen. Die unglaublichen Kubaturvorstellungen der Deutschen Bundesbahn Abteilung Immobilienverwertung konnten dadurch ausgebremst werden. Die DB verliert das Interesse und die Gemeinde kauft Baugrund und Gebäude. Wir wollen den Bahnhof abreißen und durch einen Neubau ersetzen. Ein Antrag im Gemeinderat wird mit Mehrheit angenommen. Wir beauftragen einen Architekten mit Vorentwürfen. Es soll ein zeitgemäßes und signifikantes kleines neues Wahrzeichen von Gauting werden. Alle seine Entwürfe fallen bei uns durch. Und auch der Protest in der Öffentlichkeit wächst von Tag zu Tag und setzt uns schwer unter Druck. Erhaltet den Bahnhof! Wir wechselten unsere Meinung, entließen den Architekten – der enttäuscht und wütend war – und fassten im Gemeinderat einen entsprechenden Beschluss, der bis heute hält und der durch einen städtebaulichen Wettbewerb für das gesamte Bahnhofsareal auch nochmal bekräftigt wurde. Wir sind heute sehr froh darüber. Denn der Bahnhof ist ein zentraler Baustein im inneren geistigen Gefüge Gautings.
Jede Stadt, jeder Ort hat einen inneren Code, ein magisches Bild, einen geheimen Zusammenhang – Rom seine sieben Hügel, München: Sieges-Tor, Isar Tor, Sendlinger Tor und Maximilianeum zur Definition des urbanen Kerns der Stadt. Gauting hat die Hanglage und die Bahnhofstraße. Sie ist die Achse und sie hat eine gebaute Basis im Osten an der Würm unten: das E-Werk und einen gebauten Kopf im Westen auf der Würm-Terrasse oben: der Bahnhof. Quer zu dieser Linie steht die Achse Frauenkirche im Norden und Christuskirche im Süden. Diese vier Gebäude bilden ein Kreuz – das ist der inneren Code Gautings. Das ist der weltliche und der christliche Segen. Dieses Gefüge darf nicht zerstört werden! Also leben wir heute mit der „alten Kiste“ Bahnhof, die ihren eigenen hohen Stellenwert aus dieser Konstellation bezieht. Sie schlummert den Dornröschen-Schlaf und wird hoffentlich bald erweckt.
5. Realschule – Aufbruch in die Zukunft im Schul-Campus
Wettbewerb 2008, Neubau fertig 2013, Abwehr eines Bürgerentscheids. Die Realschule macht den Schul-Campus komplett. Der preisgekrönte Entwurf sieht eine graue Außenfassade vor. Brigitte: „Das geht gar nicht, hier geht’s um Kinder!“ Sie hat von einem „Farbpapst“ bei der Architektur gehört, in Berlin ansässig, ein Griff zum Telefon und schon bekommt die Realschule ihr zwar teureres aber farbenfreudig-markantes schülergemäßes Aussehen. „Ein buntes Floß in der Landschaft“. Als ehemalige Lehrerin hat sie auch bei der Raumkonzeption etliche Male den Architekten Caterine und Ansgar Lamott aus Stuttgart dazwischengefunkt, wenn ihr manches in der Praxis nicht tauglich für die schulischen Abläufe erschien.
6. Umgehungsstraße – eine Straße für die Ewigkeit
Finanzierung durch Sonderbaulast der Gemeinde. Dadurch schnelleres Bauen und eigenständiges Handeln. Zähe Verhandlungen mit Grundeignern, Ungeduld und Frustration, nach Abschluss der Planungsphase und wenige Wochen vor Baubeginn – Überlegungen zur Verlegung der Trasse nach Westen in gemeindeeigenen Grundbesitz, Verzögerung um ca. sechs Monate. Diese Straße wird zweitausend Jahre halten – was machen da schon sechs Monate Verzögerung aus!
7. Leitbild – bürgerschaftliches Engagement für eine Zukunftsplanung
Das strategische Meisterwerk, die Brücke zur zweiten Amtszeit. „Wie es euch gefällt“ – eine Einladung an alle Bürgerinnen und Bürger. „Die ganze Welt ist eine Bühne“ und ihr Bürgerinnen und Bürger dürft, ihr sollt diese Gauting-Bühne bespielen und euch in euren Rollen darstellen! Gestaltet die Zukunft Gautings! Dies ist der niedrigschwellige Zugang zu allen wichtigen und aufregenden Themen Gautings, die in Arbeitsgruppen von jeweiligen ortskundigen und renommierten Experten geleitet werden – z.B. Gewerbegebiete, Kinderbetreuung, Gestaltung des öffentlichen Raums, Verkehrssystem und Verkehrsplanung, Gauting und die Region, Wohnungsbau, Energieversorgung usw. Der Zeitraum für diesen Leitbildprozess ist strategisch klug gewählt – er reicht vom Ende der ersten Legislatur bis zum Beginn der zweiten Legislatur-Periode. Es ist gewissermaßen die Welle, auf der Brigitte im Wahlkampf surft und so ihre Wiederwahl elegant und mühelos gewinnt.
Das ist die Bilanz. Was bleibt: Vier Kulturbauten (bosco, Remise, kino breitwand, Realschule mit seiner Aula, Orchestervereinigung) und der Bahnhof in Erwartung seiner Sanierung. Brigitte Servatius hat für Gauting neue kulturelle Horizonte eröffnet. Genannt werden muss ihr Engagement für die erzieherischen und sozialen Belange der Gemeinde. Hinweis auf die gute Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat.
Die Vermessung des Aktions-Raums
Höhepunkt: Der Tanz auf der neuen Clermont l’Hérault-Brücke am Hauptplatz mit dem französischen Bürgermeister Alain Cazorla und anschließendes Fest und Kutschfahrt am 15. September 2007
Tiefpunkt: Der Einsturz der Decke in der Josef-Dosch-Grundschule am Samstagabend, 14. März 2010. Ich stand neben ihr, als sie der Anruf erreichte. Sie wurde kreidebleich, setzte sich hin und sagte: „Gott, bin ich froh, dass das in der Nacht passierte und keine Kinder in der Schule waren.“ Es folgte dann eine Kaskade von wichtigen Entscheidungen, die dann bis zum Bau des „Karl's“ führten – aber ich breche die Geschichte hier ab. Das ist ein anderes Stück. Übrigens gibt es eine Theaterstück, in dem Brigitte zusammen mit Karl Roth die Hauptrollen spielen: „Die Himmelstür“ von Gerd Holzheimer. Das ist der Übergang zum letzten Teil:
Die Rolle von Bürgermeistern in Bayern
Bürgermeister sind in Bayern mit einer großen Machtfülle ausgestattet. Sie sind Leiter der Verwaltung und Ansprechpartner für alle Bürger. Im Bürgermeisteramt ist das Informationszentrum und Informations-Verteiler = Informationsvorsprung. Anreger, Impulsgeber und Kanalisierer. Repräsentant der Bürgerschaft in der Öffentlichkeit. Aufgaben und Pflichten machen den Bürgermeister zur zentralen Figur im kommunalen Leben der Gemeinde. Einfluss auf Gestaltung und Entwicklung der Gemeinde. Spiel auf der Bühne – Arbeit im backstage, im Hintergrund: Vermitteln, Verknüpfen, Vorbereiten und Mehrheiten suchen – sich um Einstimmigkeit bemühen.
Politik ist das Bohren dicker Bretter – manchmal auch mit unzulänglichem Bohrwerkzeug. Verve, Munterkeit, Witz und Kreativität – das waren Instrumente aus Brigittes Werkzeugkiste. Aber vor allem Menschenkenntnis, Klugheit und der Wille zum Gelingen. Die Grund-Sätze: „Es genügt nicht anzuordnen. Anordnungen haben kurze Beine. Du musst überzeugen!“ „Ja, ich weiß, ich bin ungeduldig. Aber das muss ich manchmal sein, damit etwas vorwärts geht.“ „Ich spreche immer mit meinen Kritikern und Gegnern und oft finden wir dann - zu aller Überraschung – zusammen eine Lösung.“ Und ihr vielleicht wichtigster Satz: „Das sehe ich ganz entspannt.“
Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in der die demokratischen Fundamente unserer Gesellschaft ernsthaft in Frage gestellt werden. Die Vergegenwärtigung dessen, was Brigitte auf der Bühne der lokalen Demokratie vollbracht und gezeigt hat, lässt keinen Zweifel an der Kraft, der Energie und der Qualität dieser demokratischen Verfasstheit unseres Gemeinwesens zu. Sie war ein Kommunikationstalent, sie war integrativ, sie hatte eine natürliche Autorität und Überzeugungskraft – und das alles gebündelt und geballt in jedem direkten Gespräch, bei jedem Auftritt. Und sie konnte das auf die Bühne bringen. Sie war bodenständig und hatte eine ganz natürliche Zuneigung zu Menschen. Sie fand Menschen einfach interessant und aufregend und hörte ihnen am liebsten zu und fragte sie nach ihren Befindlichkeiten, aber auch nach ihren Wurzeln und Erfahrungen im Leben. (Besuche bei Geburtstagen.) Sie war immer eine ermutigende Erscheinung und machte Lust auf Kommunalpolitik.
Wie fing das alles an?
Fachlehrerin für Werken in einer Mittelschule in München. Das politische Gen war ihr nicht in die Wiege gelegt. Es war der Wunsch, sich hier in Gauting zu beheimaten und am öffentlichen Leben teilzuhaben. In den frühen 1980-er Jahren, das Bürgerforum, das „beißzangerl“ und Hans-Georg Krause mit seinen Theater-Aktivitäten. Eintritt in die SPD und energisches Einmischen in die kommunalpolitische Alltagspolitik. Überraschend: deine Kandidatur für den Gemeinderat und dann für den Bürgermeisterposten. Energischer Zugriff auf das Geschehen mit Unterstützung von Ekkehard Knobloch, Maja Zorn, Brigitte und Harald Schneider, Jürgen Schade und Wulf von Lochner. Sie waren und sind bis heute Wegbegleiter, Förderer und Sympathisanten. Sie alle erkannten Brigittes kommunalpolitische Begabung, ihre Kreativität, ihre Unbefangenheit und Frische. Was bleibt in meinem Gedächtnis: Brigittes ungeheure Präsenz und die Sprechstunden auf der Bahnhofstrasse – radl-schiebend.
Vielen Dank, Brigitte. Du bist eine verdiente und überzeugende Würdenträgerin. Vielen Dank, dass wir in deinem Spiel und in deiner Rolle viel über unsere Gesellschaft und über uns gelernt haben, dich begleiten, dich unterstützen und dir zusehen konnten. Wir gratulieren dir herzlich zu dieser Würdigung.
Andreas Romero Gauting, 12.7.24