Vergangenheitsbewältigung. Eine Straße in Stockdorf - Max Dingler oder Oskar Maria Graf?

20. Juli 2022

Der Gemeinderat hatte am 26.9.2021 einstimmig entschieden, dass die Max-Dingler und Ina-Seidel Straßen in Stockdorf umbenannt werden. Beide waren prominente Nationalsozialisten gewesen. Dingler hatte an Hitlers-Putschversuch 1923 mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle teilgenommen und Seidel hatte Lobeshymnen auf Hitler verfasst.

Die Rathausverwaltung hatte nun die Vorbereitungen abgeschlossen. Es kam zu einer erneuten Abstimmung:

  • Die Max-Dingler Straße wird in die Oskar-Maria-Graf Straße umbenennt. Graf war ein Schriftsteller aus Berg am Starnberger See und musste 1933 vor den Nazis ins Ausland fliehen.

  • Was die Ina-Seidel-Straße angeht, so wird noch ein Gutachten über ihre Rolle im Dritten Reich, das das Münchner Stadtarchiv erstellt, abgewartet.

Es kam zu einer Debatte mit reger Beteiligung:

CSU-Bürgermeisterin Dr. Kössinger berichtete von der Anhörung der Anwohner, die sich überwiegend dafür ausgesprochen hätten, die Straßenschilder mit einem erklärenden Zusatzschild auszustatten. Sie schlug das als eine gute Kompromisslösung vor. Man sollte dem Ergebnis der Bürgerbefragung folgen. Und als Name sei auch Barbara von Wulffen vorgeschlagen worden.

Stephanie Pahl/MiFü wies darauf hin, dass bei den Postadressen diese Schilder nicht zu sehen seien.

Dr. Jürgen Sklarek/MiFü hielt den Vorschlag mit dem Zusatzschild als Ergebnis der Bürgerbefragung für eine gute Lösung.

Markus Deschler/FDP: Dingler sei kein Mitläufer gewesen. Gauting sei inzwischen die einzige Kommune, die noch eine Straße nach ihm benannt habe. Die Rolle von Seidel sei noch nicht aufgearbeitet. Das Münchner Stadtarchiv untersuche sie gerade. Man sollte das Ergebnis abwarten.

Heinrich Moser/Grüne erinnerte daran, dass eine Straßenbenennung mit einer Person immer eine Würdigung sei und sprach sich deswegen gegen die Zusatzschilder und für eine Umbenennung aus.

Stefan Berchtold/MfG-Piraten trat für die Umbenennung ein.

Franz Jaquet/CSU: Wenn Bürger umzögen, dann müssten sie auch die Kosten der Adressenänderung tragen. Mit den Schildern blieben die Postadressen weltweit unverändert.

Victoria Wechtl/FDP: Auf der eine Seite habe Gauting den jüdischen Friedhof und gleich nebendran die Straßen nach prominenten NS-Mitgliedern benannt. Das passe nicht zusammen. Es sei auch die aktuelle Radikalisierung zu beachten.

Dr. Kössinger: Dingler habe nicht gefoltert.

Maximilian Platzer/CSU: Die Schilder seien nur eine örtliche Lösung. Wenn Hausnummern geändert werden, dann müssten sich die Anwohner auch anpassen. Und Dingler sei schließlich ein Blutordensträger [für die Teilnehmer am Putschversuch 1923] gewesen. Bei ihm muss es sein. Und bei Seidel solle man noch das Gutachten abwarten, aber dann wohl doch auch umbenennen.

Dr. Reißfelder-Zessin/Grüne: Die Bürgerbefragung sei gut gewesen, Dingler sehr nationalistisch und zu Seidel sollte man das Gutachten abwarten.

Eberhard Brucker/SPD: Wer würde denn überhaupt diese Zusatzschildchen lesen? Der eine oder andere Passant würde vielleicht stehenbleiben und es lesen. Die Autofahrer würden es, wenn überhaupt, nur sehen, lesen aber schon gar nicht. Und im Postverkehr ginge das Schildchen mit seiner Erklärung völlig verloren. Hitler habe den mörderischen Eroberungs- und Ausrottungsfeldzug gegen andere Völker und Andersdenkende nicht allein durchgeführt. Es wären die vielen Gleichgesinnten gewesen, die seine Wahnideen in die Tat umsetzt hätten, so auch Dingler. Und es hätte die gegeben, die vom Rande her zusahen und Beifall klatschten, was Ina Seidel mit ihren Lobeshymnen getan habe. Die Schilder würden den Eindruck in der Öffentlichkeit, dass Gauting immer noch Dingler und Seidel mit einer Straßenbenennung ehren, nicht aus der Welt schaffen.

Dr. Kössinger: Aus der Bürgerbefragung ergebe sich, dass es ihnen nicht nur darum gehe, den Aufwand zu vermeiden, sondern auch dass die Schilder zu einer gedanklichen Auseinandersetzung anregen würden.

Dr. Albath/UBG: Er sei erstaunt, wie man sich hier über die Bürgermeinung hinwegsetze. Beide seien Bürger Gautings, aber auch unstrittig in der NSDAP gewesen.

Axel Höpner/MfG-Piraten: Man solle es nicht nur negativ sehen, denn mit Oskar Maria Graf als Alternative sei es auch positiv.

Dr. Sklarek: Man könne Geschichte nicht tilgen. Wo fange man an, wo höre man auf?

Platzer: Er sei hin- und hergerissen. Aber die Hoheit der Namensgebung liege bei der Gemeinde. Beide seien nicht Bürger Gautings gewesen. Dingler habe am Putschversuch teilgenommen, den könne man nicht würdigen. Schon vor 10 Jahren sei in Murnau die Dingler-Schule umbenannt worden. Mit diesem Namen könne man nicht gesichtswahrend aus dem Thema herauskommen.

Berchtold warf Dr. Albath Polemik vor. Die Kritik an beiden sei zu gewichtig. Man müsse die Namen ändern.

Deschler: Wir sprechen für alle Bürger und nicht nur für die Anwohner. Es gehe nicht um gute oder falsche Nazis. Man sollte zu Seidel das wissenschaftliche Gutachten abwarten.

Dr. Kössinger meinte, dass über Dingler und Seidel getrennt abgestimmt werden solle. Brucker erinnerte daran, dass mit Barbara von Wulffen eine Schriftstellerin, die in Stockdorf gelebt hätte, ebenfalls vorgeschlagen worden sei. Sie müsste in die Abstimmung einbezogen werden. Dr. Kössinger lehnte das ab. Es liege nur der Vorschlag eines Bürgers und kein Antrag vor. --- In ihrer Einführungsrede hatte sie aber auch schon auf den Vorschlag "Wulffen" hingewiesen gehabt.

Brucker beantragte namentliche Abstimmung. Dr. Kössinger wollte mit der Abstimmung beginnen, als sie von ihren Parteifreunden unterbrochen wurde. Jaquet forderte Brucker aufgeregt auf, seinen Antrag zurückzuziehen. Es sei eine sehr persönliche Abstimmung. Brucker, völlig erstaunt, lehnte ab. Dr. Kössinger wollte nun mit der Abstimmung beginnen, wurde aber erneut von ihren Parteifreunden unterbrochen. Florian Egginger/CSU: verwies auf die Geschäftsordnung des Gemeinderates, nach der eine namentliche Abstimmung erst noch zu beschließen sei.

Abtimmungen:

  • Soll namentlich abgestimmt werden? - Mit 4:20 Stimmen abgelehnt.

  • Soll das Straßenschild "Max-Dingler Straße" mit einem erläuternden Zusatzschild versehen werden? - Mit 2:22 Stimmen abgelehnt. Die "Max-Dingler-Straße" wird nun in die "Oskar-Maria-Graf Straße" umbenannt.

  • Soll das Straßenschild "Ina-Seidel Straße" mit einem erläuternden Zusatzschild versehen werden? - Mit 4:20 Stimmen abgelehnt.

  • Soll vor der weiteren Entscheidung zu Seidel zunächst das Gutachten des Stadtarchivs München abgewartet werden? - Mit 18:6 Stimmen angenommen.

Die Demokratie zeichnet sich durch Transparenz aus. Politische Entscheidungen sind nachvollziehbar und damit wer wann was gemacht hat. Das ist wesentlich für ihr Funktionieren. Der von Egginger herangezogene Paragraph ist ein Notfallparagraph. Er ist dafür gedacht, den Gemeinderat vor einem Missbrauch zu schützen, denn mit zu häufigen namentlichen Abstimmungen kann eine Sitzung sehr aufgehalten werden.

Gestern Abend ging es aber erkennbar nicht darum, einen Missbrauch zu verhindern, sondern nur darum, die eigene Stimmabgabe in der Anonymität: "Der Gemeinderat hat entschieden", zu verbergen. Die eigene Meinung offen zu vertreten und auch zu dokumentieren, war nicht das Anliegen der Mehrheit. - Es ist das erste Mal, dass über eine namentliche Abstimmung erst noch abgestimmt wurde. Und ihre Ablehnung ist kein Ruhmesblatt, das sich die Mehrheit ausgestellt hat und damit alles andere als eine Sternstunde der parlamentarischen Demokratie in Gauting.

Anhang

Soll namentlich abgestimmt werden? - Mit 4:20 Stimmen abgelehnt.

dafür:
Grüne: Knape, Moser
MfG-Piraten: Höpner
SPD: Brucker

dagegen:
CSU: Egginger, Elsnitz, Jaquet, B. Kössinger, Dr. Kössinger, Platzer, Vilgertshofer
FDP: Deschler, Hundesrügge, Wechtl
Grüne: Braun, Dr. Ilg, Nothaft, Dr. Reißfelder-Zessin
MiFü: Pahl, Ruhbaum, Dr. Sklarek
MfG-Piraten: Berchtold
UBG: Dr. Albath, Eck

Soll das Straßenschild "Max-Dingler Straße" mit einem erläuternden Zusatzschild versehen werden? - Mit 2:22 Stimmen abgelehnt.

dafür:
UBG: Dr. Albath, Eck

dagegen:
CSU: Egginger, Elsnitz, Jaquet, B. Kössinger, Dr. Kössinger, Platzer, Vilgertshofer
FDP: Deschler, Hundesrügge, Wechtl
Grüne: Braun, Dr. Ilg, Knape, Moser, Nothaft, Dr. Reißfelder-Zessin
MiFü: Pahl, Ruhbaum, Dr. Sklarek
MfG-Piraten: Berchtold, Höpner
SPD: Brucker

Die "Max-Dengler-Straße" wird nun in die "Oskar-Maria-Graf Straße" umbenannt.

Soll das Straßenschild "Ina-Seidel Straße" mit einem erläuternden Zusatzschild versehen werden? - Mit 4:20 Stimmen abgelehnt.

dafür:
CSU: Jaquet, Dr. Kössinger
UBG: Dr. Albath, Eck

dagegen:
CSU: Egginger, Elsnitz, B. Kössinger, Platzer, Vilgertshofer
FDP: Deschler, Hundesrügge, Wechtl
Grüne: Braun, Dr. Ilg, Knape, Moser, Nothaft, Dr. Reißfelder-Zessin
MiFü: Pahl, Ruhbaum, Dr. Sklarek
MfG-Piraten: Berchtold, Höpner
SPD: Brucker

Soll vor der weiteren Entscheidung zunächst das Gutachten des Stadtarchivs München abgewartet werden? - Mit 18:6 Stimmen angenommen.

dafür:
CSU: Egginger, Elsnitz, Jaquet, B. Kössinger, Dr. Kössinger, Platzer, Vilgertshofer
FDP: Deschler, Hundesrügge, Wechtl
Grüne: Moser, Nothaft, Dr. Reißfelder-Zessin
MiFü: Pahl, Ruhbaum, Dr. Sklarek

dagegen:
Grüne: Braun, Dr. Ilg, Knape
MfG-Piraten: Berchtold, Höpner
SPD: Brucker

Für Fragen, Hinweise und Meinungen Ihre E-Mail an: info@spd-gauting.de

Teilen