Nein, es gibt kein Protokoll darüber. Dennoch steht außer Zweifel, dass im Jahre des Herrn 1893 in Gauting ein Ortsverein der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gegründet worden ist. Damals gab es leider noch keine lokale Presse, die über ein solch wichtiges Ereignis hätte berichten können. Aber wir haben eine Kronzeugin. Das ist unsere Fahne, die Sie hier sehen. Auf der einen Seite steht „Gauting 1893“, auf der anderen der Wahlspruch „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Ein genaues Datum? Ist nicht überliefert. Es dürfte aber vermutlich nach dem 15. Juni 1893 gewesen sein, denn an dem Tag fand eine Wahl zum Deutschen Reichstag statt. Diese Wahl bescherte der SPD einen gewaltigen Zuwachs an Stimmen. Leicht möglich, dass das die Initialzündung war, nun auch einen eigenen Ortsverein zu gründen.
Und was für Leute haben sich damals zu diesem Zweck im Nebenzimmer der großen Gastwirtschaft „Würmbad“ versammelt? Diese Leute, das waren vor allem Arbeiter und Handwerker, denen die soziale Not auf den Nägeln brannte.
Das Wirtshaus Würmbad stand übrigens am Hauptplatz/Ecke Grubmühlerfeldstraße dort, wo heute der Gebäudekomplex von ehemals Tengelmann, jetzt Edeka, steht.
Arbeiter im Bauerndorf Gauting? Wer alte Fotos mit der ländlichen Idylle Gautings betrachtet, fragt sich, wo sollten da die Roten herkommen? Doch der Eindruck täuscht. Schon damals, Gauting hatte noch weit weniger als 2000 Einwohner, lebten hier mehr Arbeiter als Bauern. Zum Beispiel hatten sich an der Würm etliche Betriebe niedergelassen, um deren Wasserkraft zu nützen. Da gab es das E-Werk und die Haerlin‘sche Papierfabrik samt der Holzschleife, feinmechanische Werkstätten und auch eine Fabrik für Bouillonwürfel. Nahe dem Bahnhof stand das riesige Gebäude der Tabakfabrik „Austria“. Daraus wurde später die inzwischen abgerissene Grundschule. Jetzt sollen dort 60 Wohnungen und ein Supermarkt errichtet werden.
Es gab übrigens auch eine imaginäre Grenze im Ort. Das war die damals noch recht junge Bahnlinie. Sie wurde bekanntlich 1854 bis nach Starnberg fertiggestellt. Während im alten Dorf an der Würm und um die Kirche die Bauern und Arbeiter lebten, begannen in der sogenannten Kolonie westlich der Bahn betuchte Bürger sowie Künstler aus München sich prächtige Häuser zu bauen, um auf dem Land zu wohnen.
Die hatten mit den so gefährlichen Sozialisten, wie Reichskanzler Otto von Bismarck sie bezeichnete, nichts am Hut.
Heute ist es nicht mehr ganz so schlimm.
Von den Gründungsvätern und ersten Mitgliedern der Gautinger SPD ist lediglich ein Name überliefert, vermutlich weil eine Heldentat damit verbunden ist. Und das kam so: Ein Jahr nach Gründung der Gautinger SPD brannte es im Vereinslokal im Würmbad lichterloh. Ein gewisser Peter Liebhard war es, der sofort todesmutig in die Flammen sprang, um die schöne nagelneue Fahne zu retten. Wenn man so will, war das die Feuertaufe für dieses symbolträchtige Stück Tuch. Es sollte später noch andere Gefahren überstehen.
Dass es aus dieser Zeit so gut wie keine Aufzeichnungen gibt, daran ist Adolf Hitler schuld. Genauer gesagt die Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933, denn der hat die SPD damals kurzerhand verboten. Um die eigenen Genossen zu schützen, vernichteten die Sozialdemokraten alle schriftlichen Unterlagen, die bei Gestapo-Verhören eventuell hätten gefährlich werden können, Protokolle, Namenslisten und Ähnliches.
In den Gemeinderat - damals hieß das Gremium noch Gemeindeausschuss - durften bis zum Ende des 1. Weltkriegs nur Bürger gewählt werden, die auch Grundbesitz hatten. Als zu den Kommunalwahlen 1919 zum ersten Mal auch „Besitzlose“ zugelassen waren, errangen die Sozis gleich sechs der 15 Sitze.
Heute wäre das ein Traumergebnis.
Übrigens spielten in der SPD Frauen schon früher eine Rolle als in anderen Parteien. Die erste Sozialdemokratin zog bereits 1924 in den Gemeinderat ein. Sie hieß Elisabeth Hey und war mit dem Künstler Paul Hey verheiratet. Nach ihm ist eine Straße im Ammerseefeld benannt.
Zwei Brüder prägen in den nächsten Jahrzehnten die Gautinger SPD: Xaver und Benedikt Fischer, die Söhne eines Waldarbeiters namens Fischer aus der Planegger Straße. Benedikt ist der elf Jahre jüngere. Für den aufgeweckten Ministranten hat der Pfarrer eigentlich eine kirchliche Laufbahn vorgesehen und sogar schon einen Platz im Collegium Germanicum, der deutschen Priesterschule in Rom, organisiert.
Doch der Beni ist eher fasziniert von den politischen Ansichten des älteren Bruders. Der Xaver diskutiert nämlich am Küchentisch immer leidenschaftlich gern mit der streng katholischen Mutter, beispielsweise über das Spannungsverhältnis zwischen der Lehre Jesu und dem Kapitalismus.
Benedikt geht also nicht nach Rom, sondern lernt den Beruf des Werkzeugmachers und tritt mit 18 Jahren in die SPD ein, wo sein Bruder Xaver schon als Ortsvereinsvorsitzender tätig ist. Welch schweren Stand man als Roter damals hat, merkt Benedikt Fischer ziemlich bald. Sein Arbeitgeber schmeißt ihn kurzerhand raus, weil er es gewagt hat, zu einer der Maifeiern zu gehen, die damals verboten waren. Beni geht daraufhin zwei Jahre auf die Walz, kommt zurück und findet erst nach Jahren wieder Arbeit.
Wir schreiben das Jahr 1933, den Beginn des Dritten Reiches: Auch in Gauting gibt es eine Gruppe der SA und der sind natürlich die SPDler ein Dorn im Auge. Eines Tages stürmen sie ins Vereinslokal, randalieren und haben es besonders auf die rote Fahne abgesehen. Doch die ist plötzlich weg, nirgends zu finden. Der Grund? Geistesgegenwärtig hat die Genossin Karoline Engelhardt sich das Tuch unterm Rock um die Hüften geschlungen. Da trauen sich die Braunen dann doch nicht nachzuschauen. Karoline geht mit dem wertvollen Stück unbehelligt nach Hause.
Die nächsten zwölf Jahre verbringt die Fahne unter der Matratze von Beni Fischer.
Während des tausendjährigen Reiches herrscht weitgehend Funkstille. Xaver Fischer wird zeitweise ins KZ Dachau eingesperrt, der Beni muss wegen seiner Tätigkeit als Facharbeiter in einem kriegswichtigen Rüstungsbetrieb nicht zum Militär einrücken. Er wird allerdings ständig bespitzelt und in der Münchner Brienner Straße auch mal von der Gestapo verhört. Auch sein Haus wird durchsucht, aber die Fahne nicht entdeckt. Erst im März 1945 wird er doch noch als Soldat nach Italien geschickt und gerät dort für einige Monate in Gefangenschaft.
Im Oktober 1945, ein halbes Jahr nach dem Ende des Krieges und dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, leitet Xaver Fischer die Wiedergründung des Ortsvereins, ein Jahr später übernimmt Beni Fischer und bleibt Vorsitzender bis ins Jahr 1960.
Eine seiner ersten Amtshandlungen als SPD-Vorsitzender nach dem Krieg war es, dem Gautinger Schmiedemeister Anton Brucklachner im Zuge der sogenannten Entnazifizierung (ein furchtbares Wort!) einen „Persilschein“ auszustellen, also eine Unbedenklichkeitsbescheinigung in Sachen Nationalsozialismus.
Denn der Toni war in Gauting eine Institution. Alte Gautinger, so wie auch ich einer bin, kannten noch seine Schmiede. Das war ein kleines, niedriges Gebäude an der Ecke Schulstraße/Bahnhofstraße zwischen dem heutigen Rathaus und dem schönen alten Bergmoser-Gebäude, das demnächst wohl auch abgerissen werden soll. Aus dem Giebel der Schmiede schaute ein hölzerner Giraffenkopf. Niemand wusste, was der zu bedeuten hatte. Und aus der stets offenen Tür dröhnten die Hammerschläge auf dem Amboss.
Der Brucklachner hatte sich in den zwanziger Jahren kurzzeitig in die Partei der Nazis verirrt. Er trat aber ein Jahr später wieder aus, als er erkannte, Zitat „dass diese Partei das Unglück für die Zukunft des deutschen Volkes ist“, wie es in der von vier Sozialdemokraten unterzeichneten „Bescheinigung“ hieß, die den Toni entlasten sollte. Darin wird bezeugt, dass der Brucklachner Sympathisant einer Widerstandsbewegung war, die sich 1944 in Gauting gebildet hatte und dass er für geheime Treffen dieser Gruppe seine Schmiede zur Verfügung gestellt habe.
Einer der Unterzeichner des Persilscheins war Benedikt Fischer, ein anderer hieß Karl Doppelhammer. Letzteren hatten die Amerikaner bei Kriegsende als Bürgermeister eingesetzt, er war somit der erste SPD-Bürgermeister in Gauting!
Er blieb es allerdings nur sechs Tage lang. Ihm folgte dann für viele Jahre der parteifreie Hubert Deschler.
Nach dem Krieg mischen die Sozialdemokraten unter Führung von Benedikt Fischer tatkräftig in der Kommunalpolitik mit. Er selber sitzt insgesamt 32 Jahre lang Gemeinderat, wird Kreisrat und 1966 bis 1972 zweiter Bürgermeister. Die Genossen kämpfen verbissen und erfolgreich gegen die von Kultusminister Alois Hundhammer verordnete Bekenntnisschule, also gegen die schulische Trennung der katholischen von den evangelischen Kindern, und für die Gemeinschaftsschule. Und sie kämpften ebenso gegen einen Straßenbau durchs Grubmühler Feld.
Mehr als zehn Jahre lang, von 1974 bis 1985, gab die Gautinger SPD sogar eine eigene Zeitung heraus, die den schönen Namen WAU trug, eine Abkürzung für die „Würmtaler Aktuelle Umschau“. Sie erschien regelmäßig mehrmals im Jahr. Darin wurden die jeweils aktuellen Themen aufgegriffen und kommentiert. Dauerthema war schon damals die Westumgehung von Ober- und Unterbrunn.
1984 wird Beni Fischer ob seiner Verdienste die Ehrenbürgerwürde verliehen. Er ist vor 20 Jahren, am 5. Juni 1998, im Alter von 89 Jahren gestorben.
Während der 24jährigen Amtszeit von Bürgermeister Ekkehard Knobloch - er war parteifrei, aber mehrfach von der CSU nominiert - konnte die Gautinger SPD dann genügend Kraft sammeln, um von 2002 an mit Brigitte Servatius als erster Bürgermeisterin so richtig durchzustarten. Auf ihrer Erfolgsliste stehen der umfangreiche Ausbau der Kinderbetreuung, die Gründung des Zweckverbands und der Neubau der Realschule sowie die Sanierung und der Umbau der alten Realschule zu einer modernen Grundschule.
Es entstand die wichtige Beratungsstelle "Gautinger Insel" und unser „Bosco“ hier erhielt durch gründlichen Ausbau den heutigen Charakter eines Bürger- und Kulturzentrums. Wertvolle Grundstücke konnten erworben werden, wie etwa der Bahnhof und das Wunderl-Grundstück an der Starnberger Straße. Die Pläne für das Kino am Bahnhof nahmen Gestalt an.
Ein Segen für Ober- und Unterbrunn war schließlich der vorgezogene Bau der Umgehungsstraße in Sonderbaulast der Gemeinde. Nicht zu vergessen das Regionalwerk, die Bündelung der Energieversorgung in kommunaler Hand.
Leider durfte Brigitte Servatius aus Altersgründen im Jahre 2014 nicht mehr kandidieren und so haben wir jetzt eine stramme CSU-Dame an der Spitze der Verwaltung im Rathaus.
Aber noch ist ja nicht aller Tage Abend.
Gauting, 23. September 2018
Dieter Appel